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Montag, 14. Januar 2013

Gespräche sind flüchtig

Virginia Woolf beobachtete sich mit der Intensität heutiger Nutzer von Weblogs, Facebook und Twitter. Allerdings sind Tweets und andere zeitgenössische Biographieformen bis zum Bersten mit dem gefüllt, was Woolf "Nicht-Sein" nannte und zu vermeiden versuchte. Am 18. April 1939 macht es sich in ihren Aufzeichnungen weniger bemerkbar als an anderen Tagen - sie ist spazieren gegangen, hat Chaucer gelesen und mit der Lektüre der Memoiren von Madame de La Fayette begonnen. Trotzdem, notiert sie am Abend, sind die "vereinzelten Augenblicke des Daseins" auch an diesem Tag von zahlreichen Augenblicken des Nicht-Seins umgeben gewesen. Schon hat sie vergessen, worüber sie und Leonard beim Tee gesprochen haben.

"Obwohl es ein guter Tag war, war das Gute eingebettet in eine Art unbestimmbare Watte."

"Ein großer Teil jedes Tages wird nicht bewusst gelebt", schreibt Woolf in "Skizze der Vergangenheit", dem spätesten und längsten Text, an dem sie in ihren letzten beiden Lebensjahren arbeitete. "Man geht, isst, sieht Dinge, kümmert sich um das, was zu tun ist: den kaputten Staubsauger, die Anweisungen fürs Dinner, schriftliche Anweisungen für Mabel, waschen, Essen kochen, buchbinden."

"Wenn ich versuche, sie zu sehen, sehe ich deutlicher, dass unser Leben aus Teilen eines Musters besteht, und um eines davon zutreffend beurteilen zu können, muss man beachten, wie diese Seite eingebeult und jene eingedellt ist und eine dritte sich vorwölbt und keine wirklich isoliert ist."

Mehr als dreißig Jahre später kommt sie in der "Skizze der Vergangenheit" auf diesen Grundgedanken nicht nur ihres biographischen Schreibens, ihre "beharrliche Idee", noch einmal zurück:

"Dass sich hinter der Watte ein Muster verbirgt; dass wir - ich meine alle Menschen - damit verbunden sind, dass die ganze Welt ein Kunstwerk ist; dass wir Teil des Kunstwerks sind." 

Woolfs jahrzehntelange Suche nach der geeigneten Form für die Beschreibung eigenen und fremden Lebens wird auch in diesen kürzeren Texten stets mitreflektiert. Gefühle und Gedanken müssen festgehalten werden. 
"Doch wie schwierig - wie unmöglich."

Gespräche sind flüchtig, Biographen tragen Ereignisse zusammen, ohne die Person, der sie zustoßen, wirklich erfassen zu können. Was, um den Kern zu treffen, in freier Form festgehalten zu werden verdient, erläutert Woolf anhand einer frühen Kindheitserinnerung. Sie handelt davon, wie sich die Wellen brechen und über den Strand schäumen, draußen vor dem Ferienhaus der Familie in St. Ives, hinter einem gelben Rouleau, das seine Schnur und den Knopf an ihrem Ende über den Boden schleift, weil es vom Wind gebauscht wird. "Sie handelt davon, dazuliegen und dieses Schäumen zu hören und dieses Licht zu sehen und zu fühlen, es ist fast unmöglich, dass ich hier bin, die reinste Ekstase zu fühlen, die ich mir nur vorstellen kann." Das Licht hinter der Jalousie, das Muster hinter der Alltagswatte - Jahrzehnte nach dem Erlebnis hat diese Passage teil am Großprojekt der Moderne, der künstlerischen Wiederbelebung der im Tagestrott automatisierten Wahrnehmung. 1916, ein Jahr vor Erscheinen der ersten Titel der Hogarth Press, hatte Viktor Sklovskij es so ausgedrückt: "So geht das Leben dahin, wird zum Nichts. Die Automatisierung verschlingt alles, die Dinge, die Kleider, die Möbel, die Frau und die Angst vor dem Krieg." Woolf kennt das Gegenmittel - das schriftliche Bewahren des Daseinsaugenblicks. 

"Es ist ein Zeichen für etwas Reales hinter dem Schein, und ich mache es real, indem ich es in Worte fasse."

Rezension: "Augenblicke des Daseins" (Virginia Woolf)

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